Interview

Armut

Armut in Deutschland und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft

Eine Frau blickt entmutigt aus einem Fenster und hat einen kleinen Jungen auf dem ArmWer in Deutschland im Jahr 2023 arm ist, wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit 2028 auch noch sein. Das ist eine bedrückende Entwicklung der letzten 50 Jahre. Juanmonino/istock.com

Wer ist in Deutschland arm?

Eva Maria Welskop-Deffaa: Die meisten Menschen haben ein Bild von Armut im Kopf. Sie sehen die Obdachlosen, die vor der Bahnhofsmission für einen heißen Tee Schlange stehen und sie haben eine Vorstellung davon, dass man mit 1.000 Euro im Monat den eigenen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann. Wer auf Grundsicherung angewiesen ist, gilt für 70 Prozent der Bevölkerung als arm. 80 Prozent sagen, dass Menschen, die auf Leistungen der Wohlfahrt angewiesen sind, arm sind. Und zwei Drittel der Bevölkerung sehen als arm an, wer kein sicheres Einkommen hat, ist im 6. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zu lesen. 

Nach offiziellen Angaben liegt die sogenannte Armutsgefährdungsschwelle bei etwas über 14.000 Euro Einkommen im Jahr – wer weniger zur Verfügung hat, gilt als arm. Hinter dieser Zahl liegt verborgen, was Armut so bitter macht: Die schlecht isolierte Wohnung, die ruinierte Gesundheit, die Billig-Nahrungsmittel. Einkommensarmut führt zu Exklusion: kein Kino am Wochenende, keine spontanen Ausflüge mit den Kindern im Sommer. Kein Zukunftsmut.

Was heißt in Armut leben?

Fast immer bedeutet es, in einer schlechten Wohnung zu leben. In einer Wohnung, die zu teuer und/oder zu klein ist, die weit weg liegt vom Arbeitsplatz oder vom Kindergarten. Armutsgefährdete alleinlebende Menschen geben im Durchschnitt mehr als die Hälfte ihres Einkommens für Wohnkosten aus. Da bleibt nicht mehr viel übrig für Essen und Kleidung.  

Leben in Armut heißt vor allem auch: Leben in Unsicherheit. Ein Leben, in dem die Bewältigung des Alltags die persönlichen Energien erschöpft. Wie ein dunkler Schatten liegt das Wissen über den Menschen mit geringem Einkommen und schlechter Schulbildung, dass der nächste Schicksalsschlag die mühsam aufgebauten Fortschritte zunichtemachen kann. Das gilt für die Insolvenz des Arbeitgebers ebenso wie für den Sturm, der den alten Baum im Vorgarten auf das Motorrad stürzen lässt.

Einmal arm – immer arm. Ist es so?

Ja, alle Daten bestätigen: Wer in Deutschland im Jahr 2023 arm ist, wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit 2028 auch noch sein. Das ist eine bedrückende Entwicklung der letzten 50 Jahre. In den 1980er Jahren waren 60 Prozent derer, die arm waren, fünf Jahre später in der Einkommensskala aufgestiegen. Heute sind 70 Prozent derer, die in der letzten Fünfjahresperiode arm waren, auch in der folgenden Fünfjahresperiode noch arm. Auskömmlich bezahlte Arbeitsplätze für un- oder angelernte Kräfte sind weggefallen. An den Menschen mit geringer Bildung ist in Deutschland der allgemein große Wohlstandszuwachs vorbeigegangen.

Was ist der Armuts- und Reichtumsbericht?

Seit 2001 wird in jeder Legislaturperiode des Deutschen Bundestags unter der Federführung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales ein aktueller Armuts- und Reichtumsbericht erstellt. Dieser Bericht ist eine Bestandsaufnahme der sozialen Lage in Deutschland. Ziel ist es, fundierte Daten über Armut und Reichtum in Deutschland zu erheben und dabei auch deren Vielschichtigkeit und Komplexität darzustellen. Der Bericht dient zudem als Instrument der Überprüfung von politischen Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut. Lesen Sie alles weitere im aktuellen Armuts- und Reichtumsbericht.

 

Was bewirkt die aktuell hohe Inflation bei armen Menschen?

Wer von der Hand in den Mund leben muss, kann abrupt steigende Preise, wie wir sie seit dem Jahr 2021 und noch stärker seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine erleben, nicht verkraften. Das heißt: Die Schulden steigen - beim Energieversorger, beim Vermieter, bei Freunden und Verwandten. Oder es wird beim Essen gespart - als Erstes verschwinden frisches Obst und Gemüse aus dem Speiseplan, weil sie teurer sind als alles andere. Nicht nur bei denen, die von Sozialtransfers leben, sondern auch für Kassiererinnen und Lagerarbeiter, für kleine Selbstständige oder für junge Familien, die sich eine Wohnung gekauft haben und deren Rückzahlungsplan plötzlich zur Riesenbelastung wird.


«Armutsrisiken und Armutsängste breiten sich wie ein Flächenbrand aus.»

 


Was macht das mit den Menschen?

Armutsrisiken und Armutsängste breiten sich wie ein Flächenbrand aus. Das ist eines der großen Themen dieser Jahre. 

Wenn das Einkommen nicht mehr ausreicht, um im Sommer in Urlaub zu fahren, machen sich Abstiegsängste breit. Statt Hoffnung und der Zuversicht, dass sich eigene Anstrengung perspektivisch auszahlen wird, wachsen mit den Krisen – mit Pandemie, Energie- und Klimakrise – Armutsängste. 

Das zeigt sich etwa daran, dass viele Menschen den Anteil der Armen an der Bevölkerung überschätzen. Viele Analysen zeigen zudem auf, dass die gesundheitlichen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie sehr ungleich verteilt sind.

Was heißt das für unsere Gesellschaft und unser Zusammenleben?

Wenn sich das Gefühl verbreitet, auf schwankendem Boden zu stehen, hat das politische Folgen. Gerade in wirtschaftlich schwächelnden Regionen erhalten Protestparteien Zulauf, wächst die Ausländerfeindlichkeit, nimmt die Solidarität ab. „Wir sitzen alle im selben Sturm, aber nicht im selben Boot” – das empfindet die untere Mitte besonders beim Blick auf die Wohlhabenden.


«Das kritische Interesse an Reichtum nimmt zu.»

 


Eva Maria Welskop-DeffaaCaritas-Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa erläutert im Interview, was Armut in Deutschland bedeutet und welche Auswirkungen diese auf unsere Gesellschaft hat.DCV/Monika Keiler

Wie blickt die Gesellschaft auf Wohlhabende?

Ich nehme wahr, dass das kritische Interesse an Reichtum zunimmt. Über Jahre dominierte das Narrativ: Jeder ist seines Glückes Schmied, Aufstieg steht jedem offen und wer durch seine Leistung reich geworden ist, soll dies auch unbeschwert genießen. Die soziale Bindung des Eigentums war mit der progressiven Besteuerung des Einkommens „abgegolten", die Erbschaftssteuer wurde entschärft. Ich erlebe hier eine Wende: Die Legitimität des Reichtums wird zunehmend in Frage gestellt. 74 Prozent der Bevölkerung gehen davon aus, dass der wesentliche Grund für Reichtum die familiären Ausgangsbedingungen sind – nur 68 Prozent sehen die Ausbildung und 46 Prozent die persönliche Anstrengungsbereitschaft als entscheidend an. Etwa ein Drittel stimmt der Aussage zu, dass in Deutschland nur reich werden kann, wer selbst schon reiche Eltern hat.  

Der Lebensstil der Reichen belastet zudem die Umwelt, ihr CO2-Verbrauch ist um ein Vielfaches höher als der der Armen – in einer Zeit, in der wir unseren CO2-Verbrauch angesichts der Klimakrise insgesamt massiv runterschrauben müssen. Der Verbrauch der einen wird zur direkten Konkurrenz des Verbrauchs der anderen – eine Erfahrung, die wir in der Wachstumsgesellschaft der letzten 60 Jahre selten gemacht haben. 

Es braucht Regeln, wie wir die knappen Güter fair verteilen, ohne das Ökosystem insgesamt zu überfordern. Mehr Allmende wagen, mehr Verständigung über Verteilungsfragen – das müssen wir gemeinsam hinbekommen. Den Wohlfahrtsverbänden kommt dabei eine besondere Verantwortung zu.

Und wie kann Armut in Deutschland bekämpft werden?

Caritas-Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa legt in einem weiteren Interview dar, wie sich Armut in Deutschland wirkungsvoll bekämpfen lässt. Dabei zeigt sie auf, dass es dafür zwingend eine sichere soziale Infrastruktur braucht. Was die Caritas-Präsidentin darunter versteht, können Sie hier im Interview „So muss Armut in Deutschland bekämpft werden” nachlesen.